Eisbergmomente

Vor sechs Monaten oder gefühlten zwei Jahren, als wir Kulturlife-Weltwärtsler uns im deutschen Norden am Plöner See beim Vorbereitungsseminar auf nahendes Abenteuer einstimmten, durften wir unter anderem das sogenannte Eisberg-Modell kennenlernen.
Bei diesem stellt man sich einen im Wasser treibenden Eisberg vor, von dem man als Außenstehender lediglich eine kleine, herausragende Spitze sieht, dessen Rumpf jedoch bedeutend größer ist und latent unter Wasser lauert.
Dieses Bild wird nun auf das Kennenlernen einer fremden Kultur übertragen, bei der man als Neuling ebenfalls zunächst nur vieles sieht und wahrnimmt, ohne zu verstehen, was oder wie viel dahinter steckt.
Setzt man sich dann näher damit auseinander, kommt in Kontakt mit Menschen und Lebensweise, wie es bei einem Jahr natürlich der Fall ist, hat man die Chance, nach und nach wortwörtlich unter die Oberfläche zu blicken und das Verständnis für die Kultur wächst.


So hatte und habe ich hier sehr viele Eisbergmomente, bei denen sich mir auf einmal der Sinn einer Gepflogenheit oder Gegebenheit erschlossen hat, die mir vorher teilweise doch kurios erschien oder die ich gänzlich falsch gedeutet hätte. 


Hier zweiundzwanzig Eisbergmomente, wie ich sie erlebt habe:



1 Lucy, meine Gastmutti, kocht Linsen und am Boden des Kochtopfes ruht ein Löffel.
Nein, diesen hat sie nicht versehentlich hineinfallen lassen, sondern es handelt sich um einen Trick, durch den die Linsen misteriöserweise mindestens doppelt so schnell durch sind!

2 Skorpione an der Zimmerwand warten nur auf die erstbeste Gelegenheit, uns wehrlosen menschlichen Opfern den tödlichen Stich zu versetzen -
Falsch, provoziert man die schwarzen Biester nicht, tun sie dir sogar noch den Gefallen und verspeisen andere unangenehme Mitbewohner: Cucarachas, Kakerlaken.

3 Cesar blickt erschrocken drein, als Jacob eine Nachricht mit rotem Stabilo verfasst.
Grund dafür: Hier gilt man als mal educado, schlecht erzogen, wenn man zu übermittelnde Botschaften mit Rotstift schreibt.

4 Ich nehme viele nette grüne Pflanzen wahr, die mein Haus umringen und dort wachsen und gedeihen.
Was ich nicht wusste: Es handelt sich fast ausschließlich um Nutzpflanzen, bei zweien davon sogar um extrem starke halluzinogene Heilpflanzen, die bei den Shuar hohen Stellenwert genießen.

5
Der eigentlich um 8 Uhr zu erwartende Bus braucht statt zwei oder zweieinhalb manchmal eher drei Stunden, um zu unseren Cabañas zu gelangen.
Nein, es gab weder Stau noch Verkehrsunfall, sondern die Busfahrer hatten Hunger und mussten in einer Gemeinde auf dem Weg ganz dringend eine Frühstückspause einlegen.

6 Ein paar Schüler laufen wiederholt mitten im Unterricht nach vorne, statt brav von der Tafel abzuschreiben. Ich ermahne vermeintliche Rabauken -
Zu Unrecht, denn wie mir später auffällt, haben einige wenige Kinder Probleme damit, die Schrift an der Tafel zu erkennen, leiden unter Kurzsichtigkeit, doch sind traurigerweise nicht im Besitz einer Brille.

7 Cesar bringt gelegentlich Frösche von unserem Flussufer fürs Abendessen mit und als ich eines Tages den Versuch wage, selbst dem penetranten Quaken zu folgen um etwas zur Cena beizusteuern, finde ich mich unter einem Baum wieder, der Froschlärm kommt von oben. Ich erkläre meine Sinne für verrückt,
Doch: Sie liegen nicht falsch, Frösche halten sich hier wohl tatsächlich des öfteren auf Bäumen auf!

8 Amor Seco, trockene Liebe, klebt an mir und ein gekaufter Tee enthält Cola de Caballo, Schwanz des Pferdes.
Auflösung der für Verwirrung sorgenden Namen:
Amor seco nennt sich die eigentlich gar nicht liebenswürdige, sich regelmäßig an einen heftende grüne Klette. Bei Cola de Caballo handelt sich nicht um ein Tierprodukt, sondern ganz einfach um eine wohlduftende Pflanze.

9 Lucy erhält von Cesars Jagdbeute jedes Mal das angeblich Beste, den Kopf. Ich wundere mich, dass der Jäger / Fischer sein bestes ergattertes Stück so selbstverständlich abgibt.
Der Grund ist, bei den Shuar ist es ganz einfach Tradition, dass nur die Frauen das Tierhaupt essen, da es ihnen wohl sowieso viel besser schmeckt.
Vielleicht lässt sich damit erklären, warum auch Jacob nicht ganz so scharf auf seine Fischköpfe ist - wovon wiederum ich profitiere!

10 Wir sind im Besitz von mehreren mit Luft gefüllten schwarzen Reifen, gemacht für ein Vergnügen namens Tubing, bei dem man darauf bäuchlings den Fluss hinabgleitet und verträumt atemberaubende Amazonasflussuferlandschaften vorbeiziehen sieht.
Eigentlich ein Missbrauch der sogenannten bollas, die als wichtiges Fortbewegungsmittel beim Angeln und generell Flussüberqueren verwendet werden.

11 Auf einmal sieht man Nichtraucher-Shuar wenige Zigaretten rauchen - ist der Nikotinreiz nun bis in den Dschungel vorgedrungen?
Keineswegs, Zigarettenrauch wird weniger als Genussmittel als viel mehr funktionell zur Vertreibung böser Geister oder des Teufels eingesetzt.


12 Beim Wäschewaschen wird mein Blick von einem ungewöhnlichen Spektakel gefangen.
Drei Floße, von fünf jungen Männern navegiert, gleiten den Río Macuma hinab.
Da einer von ihnen hellbraunes Haar und als einziger eine Schwimmweste trägt und damit aus der Gruppe der sonst scheinbaren Shuar heraussticht, drängt sich mit der Eindruck auf, es handle sich um ein touristisches Abenteuer - ungewöhnlich aber nicht unmöglich!
Eigentlich jedoch, wie Cesar später klarstellt, sind es Mestizen und keine Shuar (was die helle Haare erklärt) und sie transportieren unter den Floßen Madera, also Bauholz. Übrigens sind sie an der turbulenten Stelle gleich bei unserem Strand kurz gekentert, ungefährlich und ziemlich amüsant!

13 Ein junger, etwas mehr Autorität ausstrahlender Shuar trägt stets einen Schal in Regenbogenfarben.
Handelt es sich um einen Kämpfer für die Gleichberechtigung Homosexueller?
Fehlanzeige! Die bunten Farben sind hier nur als Symbol für eine bestimmte Gemeinde bekannt, die genannter Shuar als Präsident vertritt.

14 Ein paar Schüler kann ich auch nach gefühlten Ewigkeiten nicht auseinanderhalten, obwohl sie verschiedene Klassenstufen besuchen.
Die Erkenntnis: Es gibt extrem viele Geschwister an meiner Schule, so einige zum Verwechseln ähnlich.

Nun verstehe ich auch meine eigenen ehemaligen Lehrer allzugut, die nur langsam begriffen, dass meine Schwester und ich verschiedene Personen sind.

15 Nachdem ich in einen starken Regen gekommen bin und pitschnass durch den Fluss wate, zu dem unser normalerweise höchstens schlammiger Pfad runter ins Projekt mutiert ist, wird mein Blick auf einen Stöckelschuh gezogen, der einsam und verlassen mitten auf dem Weg in einer Pfütze liegt.
Meine Fantasie malt sich aus, wie dieser - nutzlos und hinderlich bei dem Wetter - von einer Shuarfrau vorübergehend weggeschleudert wurde,
Doch die traurige Realität ist, dass es sich schlichtweg um Abfall handelt, der hier von einigen Menschen achtlos in den Wald geschmissen wird.

16 Unser Hund Susu zischt zeitweise ständig in die Nachbargemeinde Yucaip ab, um nach Stunden ohne Hunger und dafür mit Gestank zurückzukehren.
Erklärung dafür: Ein altes Pferd verstarb dort bei der Arbeit und schien für Susu ein Festmahl zu sein - wegen seines Geruchs nach dem Verzehr sehr zu unserem Leidwesen.

17
Ich sehe perplex Lucy zu, wie sie über die Wunde ihres Sohns gebeugt unergründliche Schnalzgeräusche von sich gibt.
Lachend über unsere Verwirrung erklärt sie später, dass die Geräusche dazu dienen, eine Art Mini-Parasit herauszulocken, der sich eventuell in der Wunde niedergelassen hat - ja, das klingt ziemlich verrückt!

18 Nachdem Cesar erfolgreich von der Jagd mit einem toten Guatusa (eine Art Riesenratte) zurückkehrt und die Zubereitung beginnt, werden die Innereien beiseite gelegt, vielleicht für die Hunde oder zur späteren Entsorgung?
Ich täusche mich: Es handelt sich um eine Delikatesse, die ihren vollen Geschmack optimal als Ayampaco, also im Blatt über dem Feuer gegart, entfaltet - ich muss zugeben, nicht übel!

19 Besucher kündigen sich damit an und Cesar ruft damit zur Arbeit oder zum Essen: ein langgezogenes, hohes Huuuuh, das ziemlich lustig klingt!
Dieses Geräusch ist hier Gang und Gebe, eine Klingel besitzt schließlich keiner und angeblich trägt der Wind genau diesen Ton viel weiter als einen gewöhnlichen Ruf.

20 Auf den Fiestas sieht man dauerhaft die Chichaschalen von Hand zu Hand wandern - wird sie denn niemals leer, oder nippen die Männer nur?
Oh nein, den Gegenbeweis liefern gewaltige, konstant wachsende Bäuche sonst schlanker Figuren, und die Vorräte sind nun mal tatsächlich immens und in harter Arbeit ausschließlich von den Frauen zubereitet.

21 Wir beobachten Cesar, wie er geschickt aus einer Schnur eine ganze Hängematte webt - ein weiterer Entspannungsort für die Casa Bonita, unser Hängemattenhaus?
Keineswegs! Statt süßen Träumen soll uns die gewebte Matte saftiges Fleisch bescheren, sie dient nämlich als Hilfsmittel für Cesars Jagd!

22 Lucy sagt mir aus dem Nichts heraus und ohne weitere Erklärung, mein Shuarname sei Ginni.
Etwas verwirrt aber erfreut nehme ich das so hin.
Erst wenige Tage später kommt geraus: 

Ginni ist das Wort für Biene in der Shuar-Sprache und auch in diesem Winkel der Erde ist die Biene Maja nicht völlig unbekannt - 


auf jeden Fall einer meiner amüsantesten Eisbergmomente!

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Kommentare: 9
  • #1

    Erika und Walter (Samstag, 16 Dezember 2017 06:18)

    Sehr schön zu lesen, ganz, ganz herzlichen Dank, wir freuen uns auf weitere Nachrichten, dir alles Gute und eine schöne Vor- Weihnachtszeit, wir werden dich am 26. in der Schwander Straße vermissen.
    Wir versuchen mal per Email einige" saure Zipfel" zu schicken, vielleicht kannst du ja ein neues Essen bei den Shuar einführen. Alles Gute für dich und deine Familie von Erika und Walter.

  • #2

    Mama (Samstag, 16 Dezember 2017 10:30)

    Mensch Maja, deine Eisberg-Momente lesen sich soooo schön, manche zum schmunzeln, manche zum nachdenken und wie immer schreibst du das alles so bildlich, dass man es fast miterlebt!
    Ich wünsch dir noch viele schöne, lustige und erkenntnisreiche Eisbergmomente und vermisse dich hier beim Plätzchen backen, Pomelo essen und dann natürlich an Weihnachten!
    Aber es tut so gut zu wissen, wie gut es dir dort geht, meine kleine Ginni ♥
    Deine Mama

  • #3

    Anne & Stanley (Samstag, 16 Dezember 2017 17:38)

    Huuuuuuuh (laut und hoch gerufen) Ginni!
    Wir staunen über deine Eisberg-Erkenntnisse! Toll zu hören, dass diese wachsen. Zwischen den Zeilen erfährt man auch ja viel über dein Leben... dass es auch mal heftig regnet und euer sonst schlammiger Pfad zu einem Fluss wird, dass du sehr feine Fischköpfe und Guatusa-Innereien isst, Skorpione deine freundlichen Zimmergenossen sind und dass die bösen Geister (und vielleicht auch mosquitos?) mit Rauch vertrieben werden. Wow! Dein Brief ist übrigens schon längst angekommen und einer von mir zu dir unterwegs. Vielen Dank für deine Blog-Einträge - wir denken viel an dich!
    Frohe Weihnachten und lass dir das ganz besondere Weihnachtsmenu schmecken!
    besitos von Anne y abrazos von Stanley

  • #4

    Maja (Samstag, 16 Dezember 2017 20:56)

    Danke Erika und Walter für die sauren Zipfel , auf die ich ja ganz besonders scharf bin, wie ihr wisst ;-)

    Genau Anne, nur "freundlich" ist vielleicht doch ein kleines bisschen zu positiv als Adjektiv für die Skorpione! Mal sehen ob und wann jemals Post hier ankommt.. Ich freu mich auf jeden Fall schonmal, danke!
    Die Verbindung Ecuador->Schweiz war ja bisher tatsächlich auch die allerschnellste, vielleicht klappts andersrum also auch! :)

    Euch auch allen fröhliche Weihnachten! :)

  • #5

    Dieter (Dienstag, 19 Dezember 2017 09:38)

    Liebe Maja - oder wie immer du dich neuerdings nennst. Ginni?

    danke für deine tollen Berichte auf deinem Blog, mit immer wieder neuen Erlebnissen und Fotos, mit denen du uns teilhaben lässt an deinem Jahr auf einem anderen Kontinent, so weit weit weg.

    Dein diesmal gewähltes Thema hat mich elektrisiert :-) , daher musste ich mir "passend" gleich ein paar Fotos von heuer ansehen. Auf manchen kann man ein wenig erahnen, dass unterwegs so einiges zurückbleibt, aber auch viel Unsichtbares bis zum Ende unter der Wasseroberfläche bleibt. Manchmal kippt so ein Klotz dann erscheint vieles in neuem Licht manchmal glatt geschliffen und wie geleckt, und nach einiger Zeit löst sich alles auf.

    Ich wünsch dir ein frohes Weihnachtsfest. Und glaub mir während wir bei Walter und Erika Plätzchen naschen, Stollen essen, und später Käse, Schinken, frische Laugenstangen, Ofenbrezen und saure Bratwürste mit vielen Zwiebeln schlemmen (ich esse 2 Würste extra für dich!) denken wir ganz sicher auch an dich und deine Lekkereien, die du in frisch gezupfte Urwaldblätter rollst und weihnachtlich am Feuer grillst.

    Euch allen in der Ferne ein Frohes Fest und liebe Grüße vom
    Dieter

  • #6

    Axel Scholler (Donnerstag, 21 Dezember 2017 23:44)

    Hallo Maja-Ginni,
    vielen vielen Dank für deine tollen, spannenden und bezaubernden Berichte. Mit deiner so wunderbaren Art zu schreiben, ergibt sich eine Chance, selbst eine fremde Welt erleben und die Menschen um dich herum etwas kennen lernen zu dürfen. Wie wohl für dich der Blick zurück in die so andere mitteleuropäische Welt ist? Ich möche gerne mal tauschen.
    Ich wünsche dir ein wunderbares Weihnachtsfest! Ein ganz besonderes wird es ja sicher sein.
    Alles Gute von Axel

  • #7

    Erika und Walter (Sonntag, 31 Dezember 2017 08:55)

    Liebe Binni, wir wünschen dir alles Gute für das neue Jahr 2018,
    Erika und Walter.

  • #8

    Erika und Walter (Sonntag, 31 Dezember 2017 08:56)

    Entschuldigung natürlich "Ginni"

  • #9

    Connie (Montag, 01 Januar 2018 23:44)

    Liebe Maja, ich wünsche Dir ein tolles neues Jahr mit vielen Eindrücken und Erfahrungen! Ein ganz beeindruckendes Gleichnis, die Eisbergmomente, das merk ich mir! Man lernt nie aus! So schön, das alles von Dir zu lesen. Mach weiter so! Und bleib xund!

Rückflug am 25.08.18

Hier lebe ich die meiste Zeit
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