Glaubensfragen

Längst sind die Shuar schon kein isolierter, Schrumpfköpfe anfertigender "Stamm" mehr.
Eine große Menge lebt heute in der Stadt, geht Berufen nach und besitzt Handys.
Auch der Teil der Bevölkerung, der im Dschungel lebt, trägt Kleidung, hat für gewöhnlich Facebook und führt ein Leben, was zwar unbestreitbar mit dem Wald verwoben aber dennoch stark von Einflüssen der "Außenwelt" bestimmt ist (zumindest kann ich von den Gemeinden sprechen, die ich kennengelernt habe - tiefer im Wald wohnen immernoch Gruppierungen, über die ich keine Aussagen machen kann).
Das alles, obwohl die ersten Kontakte zur Zivilisation gefühlt erst kürzlich stattfanden - genauer gesagt in den 1950er Jahren, als US-amerikanische Missionare zum Evangelisieren in den Dschungel vordrangen.
Steinäxte wurden erst dann durch Macheten ersetzt, annähernde Nacktheit von westlicher Kleidung bedeckt, das zum Jagen nötige Blasrohr und der Speer durch ein Gewehr ausgetauscht, reine Blätterhütten in vernagelte Holzbehausungen verwandelt und zum ersten Mal bekam Geld eine Bedeutung.

Während es weder den Inkas noch später den spanischen "Conquistadores" bei ihren Eroberungszügen gelungen war, die Shuar zu unterwerfen, was diesen den Ruf eines wilden und unbezwingbaren indigenen Volkes des Amazonasgebiets verlieh,
schafften es die nächsten Eroberer - diesmal offiziell im Namen des Glaubens und nicht des Plünderns unterwegs - im Handumdrehen, ein Umdenken ins Rollen zu bringen und die Kultur der Shuar in ihren Grundzügen zu verändern.

Das Resultat der Missionierung im hiesigen Gebiet ist eine heute fast ausschließlich evangelische Gesellschaft, die regelmäßig in die Kirche geht, teilweise extrem gottgläubig ist und von der einige Individuen die Missionare hoch ansehen.
Nicht zu verachten ist durchaus das Engagement und der scheinbar altruistische Eifer, mit dem die "Weißen" abgesehen von Religion die Grundlagen für (nach westlichen Idealen ausgelegte) medizinische Versorgung, Mobilität, politische Organisation und Bildung der Shuar legten.
Ein Beispiel ist mein Arbeitsplatz, die Schule in Tunants, die von dem kürzlich in den USA verstorbenen Francisco Drown gegründet wurde und zu dessen Ehren noch heute seinen Namen trägt.
Doch es gibt unter den Shuar auch Kritiker der Missionierung durch die Ausländer.
Denn die Mittel, mit denen das "Wort Gottes" so vehement verbreitet wurde, sind zum Teil fragwürdig, grenzen meiner Meinung fast an Hirnwäsche, falls es sich wirklich so zugetragen hat. Man drohte denjenigen, die als ungläubig galten und sich zunächst nicht bekehren ließen, mit der Hölle nach dem Tod und schürte Angst, um daraus anschließend Gottesehrfurcht zu formen, eine Methode, die natürlich nicht nur hier im Dschungel sondern bekanntermaßen an vielen Orten der Welt angewandt wurde.
Doch einem Shuar konnte man auch vor der Christianisierung keineswegs Ungläubigkeit vorwerfen (wenn man darauf überhaupt einen Vorwurf aufbauen kann), nur war es eben eine andere Art von Glauben als der den Missionaren bekannte:
Der Glaube an die sogenannte Mythologie, von der die Weltanschauung der Shuar wahrscheinlich vor allem wegen des engen Zusammenleben mit der Urwaldnatur geprägt war und ist und die in mündlich überlieferten Geschichten und Weisheiten noch heute lebt - wenn sie auch schon in einigen Teilen verdrängt und überschattet vom Christentum ist, in anderen Bereichen dafür auf interessante Weise mit diesem koexistiert.

Zunächst und als sehr bedeutendes Element gibt es Arutam, eine Art universellen Geist oder auch eine Seele, die in allen Lebewesen wohnt und ganz besonders stark in mächtigen Tieren wie dem Jaguar oder der Anakonda zum Ausdruck kommt.
Innerhalb von durch halluzinugene Pflanzen wie Ayahuasca oder Floripondio hervorgerufenen Visionen können die Menschen in Kontakt zu Arutam treten und von ihm spezielle Kräfte erhalten.
Zeremonien mit den genannten Pflanzen sind heute genau wie schon vor Jahrzehnten sehr verbreitet.
Diese Tradition hat sich trotz der vehementen Kontrahaltung gewisser Missionare erhalten, die Ayahuasca genau wir Schamanismus, Polygamie und die Anfertigung von Tsantsas (Schrumpfköpfen) als absolut böse und dämonisch einstuften und kategorisch ablehnen.
Tsantsas werden heute auch nicht mehr angefertigt und mehr als eine Ehefrau haben nur wenige Männer, hier können die Missionare also Erfolge verbuchen, während sie bei dem Verbieten von gewissen Heilpflanzen und dem Schamanismus auf Wände stoßen.

Klar und deutlich ist auf jeden Fall zu sehen, dass viel von der Mythologie verloren geht, was wahrscheinlich nicht lediglich auf die Missionierung, sondern ebenso auf mangelndes Interesse, fehlende schriftliche Aufzeichnung und generell den Einfluss der globalisierten Welt zurückzuführen ist.
Und doch kriege ich (besonders von Cesar und Lucy) immer wieder mythologische Geschichten und Weisheiten mit, besonders im Bereich der Heilkunde, die gerade im Unterbewusstsein der Menschen und in deren Handeln lebendig sind.
Einige davon werde ich im nächsten Blogeintrag versuchen widerzugeben.

Genau wie die Präsenz der Mythologie spürt man hier noch immer den Einfluss aber auch die Anwesenheit der Missionare.
Ein kleines Team dieser wohnt in Macuma und widmet sich gerade dem Übersetzen der Bibel auf Shuar.
Und auch andere überzeugte Glaubensgemeinschafen wie die Zeugen Jehovas versuchen in dieser Gegend (zum Teil schon mit Erfolg) Anhänger zu gewinnen - erst vor kurzem fand ich mich in einem Bus wieder, der in den Dschungel fuhr und zur Hälfte mit jenen Anhängern gefüllt war, die nach eigener Auskunft "das Wort Gottes" verbreiten wollen.
Ich würde es lieber IHR Wort Gottes nennen, aber ab hier mische ich mich lieber nicht weiter in die viel zu komplexen Glaubensfragen ein.

Ich entschuldige mich, falls manche Schilderungen nicht vollständig korrekt sind oder ich in bestimmten Fällen ungewollt verallgemeinere und Gegebenheiten in falsches Licht rücke.
Das meiste der Informationen habe ich durch mündliche und deshalb natürlich auch subjektive Erzählungen oder durch Beobachtungen meinerseits gewonnen.
Ich als nur vorübergehend hier Lebende kann die Situation -zwischen Christentum und Naturreligion- alles andere als abschätzen, genauso wenig wie ich beurteilen kann, inwiefern die Missionierung hier ein Fluch oder ein Segen war und ist.
Diese Glaubensfragen kann jeder sich selbst stellen und beantworten.

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Kommentare: 6
  • #1

    Mama (Dienstag, 17 April 2018 20:52)

    Wow!
    Ist ja richtige Literatur die du da von dir gibst, aber hoch interessant!
    Lass es dir weiter so gut gehen mein Schatz! Wir denken an dich ❤️Mama

    Warst du auch schon im Gottesdienst in der Kirche dort?

  • #2

    Moritz (Freitag, 20 April 2018 11:36)

    Es macht immer Spaß deinen Blog zu lesen , viele Grüße :)

  • #3

    Joachim (Sonntag, 22 April 2018 11:43)

    Liebe Maja, vielen Dank für Deinen Beitrag, in dem Du versuchst aufzuzeigen, was sich durch den Einfluss von "Weltlichen" bei den Naturvölkern ändert und geändert hat. Auch wenn Du - was ich als sehr klug empfinde - keine eigene Meinung zur Christianisierung abgibst, kann man doch gut auch die Kritik zwischen den Zeilen lesen.
    Ich empfinde es immer und generell als unpassend, wenn jemand / eine Gruppe versucht, anderen eine eigene Meinung oder Vorstellung überzustülpen und was aus einer eigentlich positiven Idee wird und werden kann, sieht man an den Glaubenskriegen, Hexenverbrennungen, aber auch heutzutage mit den extremen und extremistischen Ausprägungen und Auslegungen jeglicher Glaubensansätze, ob es im IS endet oder bei den Zeugen Jehovas, der Hintergrund ist jeweils eine (meist männliche) Unterdrückung Andersdenkender und freiheitsliebender Menschen. Eine Philosophie (griechisch: Liebe zur Weisheit), die nicht bevormunden will, die den Menschen innerhalb seines Lebensraumes sieht, ist Wu Wei!
    Ein gutes Buch zu diesem Thema ist von Theo Fischer (den ich noch persönlich kennenlernen konnte): Wu Wei, die Lebenskunst des Tao. "Wu wei - das bedeutet aus dem inneren Zentrum handeln, im Einklang mit dem Fluss des Lebens sein, im Hier und Jetzt leben. Für den modernen Menschen mit seinem hektischen Alltag und dem Stress im Beruf scheint das ein unerreichbares Ziel. Doch die chinesischen Weisen haben einen einfachen und ungeheuer praxisorientierten Weg entwickelt, das Leben in seiner ganzen Vielfalt anzunehmen und zu genießen. Wenn Sie ihm folgen, wird Sie nichts mehr aus der Bahn werfen. Wer je in seinem Leben eine tiefgreifende Existenzkrise durchgemacht hat, erinnert sich vielleicht: Die Wende zum Besseren trat genau in jener Phase ein, da man aufgehört hatte zu kämpfen. Aufhören mit sinnlosem Kämpfen, leben im Augenblick, sich nach dem Fluss des Lebens richten – das bedeutet wu wei. Wörtlich übersetzt heißt es etwa «Nichtstun», «Nichthandeln». Damit wird keinesfalls gesagt, man solle träge, entschlusslos oder lässig sein, sondern wu wei bedeutet, wir sollten in unseren Entscheidungen nicht gegen unsere innere Autorität, eben das Tao, handeln. Wu wei ist die Kunst, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Dieses Buch gibt eine Einführung in die praktische Anwendung der Lebensphilosophie des Tao."
    Vielleicht läuft es Dir ja mal über den Weg oder ich bestelle es bei Amazon und schicke es nach Amazon (as) :-)
    Die ganz liebe Grüße und noch eine schöne Zeit!
    Onkel ;-) Joachim

  • #4

    Maja (Montag, 23 April 2018 04:09)

    Gruesse zurueck erstmal! :)

    Danke lieber Joachim fuer den Kommentar -
    von Wu wei habe ich noch nicht gehoert, aber der Ansatz dieser Philosophie, wie du ihn hier schon in den Grundzuegen erlaeuterst, klingt sehr interessant und vor allem auch friedlich.
    In den Amazonas Post zu senden ist ziemlich riskant, aber es trifft sich, dass ich ganz kurz nach meinem Geburtstag wieder in Deutschland bin und dank dir nun schon einen Wunsch habe..
    Ganz liebe Gruesse an dich und die Kids,
    deine Maja - und viel Spass auch beim Segeln!!

  • #5

    Anne (Donnerstag, 10 Mai 2018 16:06)

    Liebe Maja
    Immer wieder interessant, von dir zu lesen! Und ja, zur Religion, hat jede Person einen eigenen Zugang. Schön, was du alles im Dschungel erfahren und erleben darfst! Ganz liebe Grüße von uns Schweizern

  • #6

    Sua (Sonntag, 12 April 2020 09:27)

    Ein sehr schön geschriebener Eintrag und es hat mir ein paar wichtige Infos geliefert nach denen Ich gesucht hatte, vielen Dank ��

Rückflug am 25.08.18

Hier lebe ich die meiste Zeit
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