Sonne, Mond und Anaconda

Stell dir vor, du wächst im Dschungel auf.
Nennst dieses undurchdringliche Grün, den einzigen Lebensraum, von dem du weißt, dein Zuhause.
Bist bis ins kleinste Detail vertraut mit allen dich umgebenden blühenden und rankenden Pflanzen.
Mit allen durch die Gegend schleichenden, flatternden, kriechenden und krabbelnden Tieren, die du anhand minimalster Geräusche identifizieren kannst.
Mit dem überschaubaren Menschenkreis, in dessen Mitte du groß wirst und der dich lehrt, zu überleben.
Mit den Jahreszeiten, Himmelskörpern und dem gesamten Kreislauf der Natur.

Stell dir vor, du ahnst nicht, dass die Welt nicht nur Dschungel ist.
Dass das Dickicht auf allen Seiten ein Ende hat.
Dass in unvorstellbarer Ferne Deinesgleichen in Gebirgen, Städten und an Küsten auf vollkommen fremde Art und Weise existieren.

Du bist Meister deiner Wissenschaft.
Denn du weißt besser als jeder andere, welches Geräusch dich vor welcher Gefahr warnt, welche Art von Holz am längsten brennt und welchen Grünton die Blätter der Papachina haben müssen, damit diese erntereif ist.
 
Die "andere" Wissenschaft jedoch, die herausgefunden hat, dass es das Chlorophyll ist, welches erst für die grüne Farbe in den Blättern sorgt und dass Papachina zu den Nachtschattengewächsen gehört, ist dir unbekannt.

Wie erkärst du es dir, dass die meisten Blätter ausgerechnet grün sind?
Dass die Sonne nachts verschwindet und der Mond ihren Platz einnimmt?
Dass gewisse Pflanzen heilende, und andere eine verheerende Wirkung haben?

Ganz einfach.
Du setzt deine Fantasie ein.
Und genau so entstehen schließlich Geschichten, Sagen und Weisheiten, die über Generationen hinweg weitergetragen und weitergesponnen werden und über deren Wahrheitsgehalt die Meinungen sich spalten.
Die Mythologie.


Nun habe ich versucht, elf verschiedene lokale Mythen zusammenzutragen, von denen einige mehr als Alltagstips fungieren, andere die Entstehung oder Existenz bestimmter Konstanten erklären sollen und wieder andere dem Anschein nach am ehesten zur Belustigung zum Besten gegeben werden.
Wichtig ist mir, zu betonen, dass das Folgende subjektiv ist und jeweils nur eine Interpretation von wahrscheinlich tausend Varianten darstellt.
Manche Mythen sind außerdem eher Familienweisheiten, andere werden sicherlich von Person zu Person verschieden erzählt, wieder andere sind nur bei wenigen Menschen bekannt.
Das Schöne ist: In der Mythologie gibt es kein Wahr oder Falsch.


1. Jempe, Jíjiai
Vor vielen Jahren kannte die Menschheit das Feuer, Jempe, nicht, ausgenommen eine Familie, die Jempe jedoch nicht teilen wollte.
Eines Tages fand der älteste Sohn einen durchnässten und frierenden Kolibri, Jíjiai, der in Lebensgefahr schwebte.
Der Junge nahm das Tier mit nach Hause und wärmte es am Feuer.
Beim Trocknen erlangte der kleine Vogel nach und nach seine Vitalität zurück und als er noch näher an die wärmespendenden Flammen heranrückte, fing seine Schwanzspitze Feuer.
Der Kolibri flog in die Höhe und striff dabei einige trockene Bäume, die er ungewollt entzündete.
Jempe breitete sich aus und erreichte schließlich auch andere Menschen.
Auf diese Weise hatte Jíjiai den Shuar das Feuer geschenkt und seitdem muss keiner mehr unter Kälte leiden.

2. Traumdeutung
Achtung: Träumst du nachts von einer Schildkröte oder taucht in deinen Schlafbildern ein Schal auf, so übe dich in Vorsicht, denn ein solcher Traum ist eine klare Warnung und Zeichen dafür, dass du in naher Zukunft von der Anaconda verspeist wirst.

3. Goldrausch
Was leuchtet nachts im Dunkeln so hell?
Es ist eine Flamme, nun renne schnell!
Folgst du diesem gut gemeinten Ratschlag beim Anblick eines Feuers mitten im Urwald und bewerkstelligst es tatsächlich, die nur für den Bruchteil eines Moments brennende Stelle rechtzeitig zu markieren, gehört die Zeit der finanziellen Sorgen mit etwas Glück deiner Vergangenheit an.
Denn die übrigens vom Teufel geschickte Flamme kennzeichnet genau den Ort, an dem du große Mengen Gold finden wirst.

4. Das Sams
Als ich eines Tages neugierig den Kopf über eine aus einem Tuch gespannte Hängematte beuge, blicke ich entzückt in das Gesicht eines kleinen Sams.
Ein Neugeborenes schaut mir ins Gesicht und seine Nase ziert ein großer orangeroter Punkt.
Man belehrt mich: Es handelt sich nicht um einen Sams'schen Wunschpunkt, sondern die Farbe stammt von der Knospe eines Baumes, Achiote, mit der sich die Shuar früher bemalten.
Bei den kleinen Menschen aufs Näschen aufgetragen hat Achiote den Zweck, den geradeaus gerichteten Blick des Kindes zu fördern und der Trick ist bei den Müttern hier weit verbreitet.

Achiote
Achiote

5. Rentier-Reinkarnation
Manche Menschen hier glauben, dass man nach seinem Tod als venado, eine Art Hirsch wiedergeboren wird.
Während dieses Tier bei einigen Shuar also genau wie fast alle jagbaren Waldwesen auf dem Speiseplan stehen kann, würde beispielsweise Cesar niemals einen Teller davon anrühren, denn das wäre, "als würde er seinen eigenen Opa verspeisen".

6. Pflanzenseele
Eine gewisse halluzinogene Heilpflanze genießt in der Welt der Shuar einen besonders hohen Stellenwert. Es handelt sich um die Liane Ayahuasca. Dieser wird eine extrem reinigende und heilende Wirkung zugeschrieben. Unmittelbar im Anschluss an die Einnahme dieses nach stundenlangem Kochen zu einer Kaffee-ähnlichen Essenz geschrumpften Gebräus setzen für wenige Stunden Halluzinationen ein, in welchen sich ein Shuar oft mit einer Person konfrontiert sieht, die doktorgleich die Heilung in die Hand nimmt.
Bei jener personifizierten Seele des Ayahuascas handelt es sich dem Mythos nach um Natem, ausgesprochen "Natímmm", ein alter, weiser Mann, dem vor langer Zeit beim Besteigen eines Berges die Kraft abhanden kam. Daraufhin verwandelte er sich schlicht und einfach in eine sich an Bäumen hinaufhangelnde Schlingpflanze, um ohne viel Mühe an Höhe zu gewinnen.
Bei jener Liane handelt es sich heute um Ayahuasca, die genau wie Natem nach oben strebt, sich an Baumstämmen hinaufrankt und die des alten Mannes Geist und Seele in sich trägt und genau deshalb in der Vision in dessen Gestalt erscheinen kann.

Ayahuasca
Ayahuasca

7. Vom Rauche ertappt
Gemütlich sitzen alle ums Feuer herum, bis es für einen der Anwesenden auf einmal nicht mehr ganz so lauschig ist:
Der Rauch qualmt genau in seine Richtung. Wechselt der Unglückliche die Seite, so tut es der Wind ihm gleich.
Kein Zufall!
Wird man vom Rauch eines Feuers verfolgt, ist das ein klares Zeichen dafür, dass man offene Wege für gewöhnlich als Toilette missbraucht...

nö, der Rauch folgt mir nicht.
nö, der Rauch folgt mir nicht.

8. Wie ein Muttermal entsteht
Taucht auf deinem Körper ein neues Muttermal auf, wie es manchmal im Leben vorkommt, so trägst du selbst die Verantwortung. Das vorher nie gesehene Mal erscheint nämlich nicht zufällig, sondern genau an der Stelle auf deiner Haut, wo ein unschuldiger Mitmensch von dir mit einem Guavenkern getroffen wurde.
Die Moral von der Geschicht':
Wirf niemals einen Mitmenschen mit einem Guavenkern ab, denn jener Getroffener kommt mit einem temporären blauen Fleck davon, dich dagegen ziert für deine Lebzeit ein schwarzer.

Guaven - mit das köstlichste, was der Dschungel zustande bringt
Guaven - mit das köstlichste, was der Dschungel zustande bringt

9. Lügendetektor
Peitscht dich eine Schlange, habe keine Bange.
Denn in diesem Fall wird das Tier nicht zum Mörder, sondern zum Lügendetektor.
Angepeitschter ist als klarer NichtdieWahrheitSager ertappt und sollte sich vorsehen, denn der nächste schlängelnde Angriff könnte weniger glimpflich verlaufen.

Susu mit Lügendetektor (der in Selvavida wirklich schonmal jemanden entlarvt hat)
Susu mit Lügendetektor (der in Selvavida wirklich schonmal jemanden entlarvt hat)

10. Etza und Nantu
Sonne und Mond - Gegenstände und Protagonisten unzähliger Geschichten auf der ganzen Welt.
Hier im Dschungel gelten die zwei - Etza, Sonne und Nantu, Mond - als Brüder, die sich eines Tages zerstritten, wobei Nantu den Kürzeren zog und seitdem mit viel weniger Kraft die Nacht erhellt, während Etza täglich strahlen darf.
Der Mythos ist für mich deshalb besonders schön, weil zwei befreundete Zwillinge genau diese beiden Namen tragen - ich wünsche, dass es bei ihnen niemals zu einem Streit mit derart verheerenden Folgen kommt.

aus meiner Hütte: Blick auf einen vollen Nantu
aus meiner Hütte: Blick auf einen vollen Nantu

11. Königin der Schlangen
Eines Tages begaben sich zwei Brüder gemeinsam auf die Jagd. Als sie sich nachts zum Schlafen ans Feuer legten, vernahmen sie das Quaken von Kaka, einer Froschart.
Einer der beiden sagte: "Ich wünschte, das Geräusch stämme von einer Frau, dann würde ich mit ihr schlafen." Das kluge Amphib hörte jene unüberlegten Worte, verwandelte sich in die herbeigesehnte Frau, legte sich neben den vorlauten Mann und führte ihn damit in eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte.
Mitten im folgenden Akt zeigte die vermeintliche Frau ihr wahres Gesicht und wechselte in die Krötengestalt zurück, was dem Mann alles andere als wohlbekam. Sein bestes Stück wurde bei der Verwandlung so stark in die Länge gezogen, dass er es sich nach Kakas Verschwinden über die Schulter hängen musste, um überhaupt vom Fleck zu kommen.
Der Verzweifelte suchte mit seinem äußerst langen Problem einen Schamanen auf, der ihm Folgendes riet: "Schneide Ihn in viele kleine Stücke, bis Er Seine Ursprungslänge hat. Danach wirf die einzelnen Teile in verschiedene Stellen eines Flusses."
Der Mann folgte den weisen Worten und nach einiger Zeit erwuchs aus jedem einzelnen Stück des zerschnittenen Körperteils eine Anaconda, die sich rasch und großflächig verbreitete.
So kam es zur Existenz der geheimnisumwobenen Königin der Schlangen im Amazonasgebiet.

das könnte Kaka sein - verführerisch?
das könnte Kaka sein - verführerisch?

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Kommentare: 5
  • #1

    Mama (Dienstag, 05 Juni 2018 16:41)

    Da hast du ja mal wieder so viel schönes und vorallem interessantes geschrieben! Vielen Dank für die Mythen und Geschichten aus deiner momentanen Welt! Aber träum du bitte weder von Schildkröte noch einem Schal! Pass gut auf dich auf und genieße und erlebe weiterhin alles mit ganzem Herzen!
    Freu mich schon so auf dich! Deine Mama ❤️

  • #2

    Anne (Freitag, 08 Juni 2018 15:22)

    Wow, mit Gänsehaut gelesen. Fantástico, lo que nos cuentas! Muchos besitos!!! muahmuah

  • #3

    Marion Petschenka (Dienstag, 12 Juni 2018 15:46)

    …was für tolle Geschichtchen aus deinem Urwald…ich hab mich wieder sehr über den neuen Blogeintrag
    gefreut liebe Maja.....
    Viele Grüße und noch eine ganz wundervolle Zeit wünscht dir
    Marion

  • #4

    Dieter (Donnerstag, 14 Juni 2018 20:24)

    Liebe Maja, tolle Geschichten,

    da sehe ich die Redensart "sei kein Frosch" doch gleich in ganz anderem Licht :-)

    --
    Noch 10 Wochen und du darfst den Dschungel wieder gegen die fränkischen Nadelwälder eintauschen. Hitze und Stechmücken können wir zurzeit auch bieten, da gewöhnst du dich dann vielleicht etwas leichter ein. ;-)
    --
    Wenn ich zurück blicke - mein längster zusammenhängender Urlaub jemals betrug 10 Wochen. Das ist genau so lange wie du jetzt noch vor dir hast. Damals kam ich mir doof vor, dass sich nach 5 Wochen langsam das Gefühl einstellte "oh weh, die Hälfte ist schon vorbei" - obwohl im gesamten späteren Leben meine längsten Urlaube gerade mal noch 3-4 Wochen dauerten aber mir dennoch "lang" vorkamen. Ich wünsche dir, dass du deine verbleibende Zeit noch gut genießen kannst, ohne dass dir der Rückflugtermin im Nacken sitzt. Es beginnt ja auch gleichzeitig die Vorfreude auf alle(s), die/was dich zuhause erwarten/t.

  • #5

    Maja (Samstag, 16 Juni 2018 14:54)

    Danke, ihr Lieben ❤

    Hast Recht Dieter, die Redensart könnte man wirklich anders verstehen mit der Geschichte im Hinterkopf�

    Und ja, mir ist bewusst, dass die Zeit, die vor mir liegt verhältnismäßig noch eine ziemlich lange ist, die ich auf jeden Fall noch genießen werde.

Rückflug am 25.08.18

Hier lebe ich die meiste Zeit
Hier lebe ich die meiste Zeit