Abschlussbericht - Im Herzen des Dschungels

Was vor wenigen Monaten noch abseits von jeglicher Vorstellungskraft lag, ist nun Realität: Ich sitze frierend in einem geschlossenen Wohnzimmer an einem echten Schreibtisch mit brennendem Licht über und dem Laptop vor mir und versuche, das vergangene Jahr auf die zwei vorgegebenen Seiten des Abschlussberichts zu reduzieren. 
 

Im Dezember 2016 trat der Moment ein, der mein weltwärts-Jahr einleiten würde. Ich erhielt nach langem Hoffen und Warten die heißersehnte E-Mail von Kulturlife mit einer tatsächlichen Zusage für das Bildungs- und ökologische Projekt Fundación Selvavida, welches im Amazonasdschungel Ecuadors gelegen ist und worauf ich mich konkret beworben hatte.  Die Planung und Vorbereitung begleitete mich ab diesem Zeitpunkt bis zum 27.August 2017, dem Abreisedatum aus Deutschland. In jenen Monaten wurden Spenden gesammelt, Impfstoffe ins Blut gespritzt und meine Vorgänger-Freiwillige über den Dschungel ausgefragt, bis sich die Aufregung schließlich auf dem Vorbereitungsseminar im Juni maximierte, auf dem uns Freiwilligen, „Gleichgesinnten“, wertvolle Inhalte durch unsere kompetente Trägerorganisation Kulturlife vermittelt wurden und wir gemeinsam intensive und einstimmende Tage erlebten. In Ecuador kam ich nach den Einführungstagen in Quito, in denen wir zwölf Freiwillige uns irgendwie mehr noch in einer klassenfahrtartigen Stimmung befanden und keiner das Ausmaß von einem Jahr richtig fassen konnte, zusammen mit Jacob schließlich im Proyecto Ecológico Selvavida an.  Selvavida heißt übersetzt Dschungelleben und beschreibt die Lebensumstände vor Ort treffend. Das „Camp“ liegt zwei bis drei Stunden östlich von Macas in der Provinz Morona Santiago im Amazonasgebiet, dem „Oriente“ Ecuadors und ist mittels Bus und anschließend einem kleinen Fußmarsch auf einem Trampelpfad durch den Urwald zu erreichen. Die in dieser Region lebenden Menschen gehören der indigenen Nationalität der Shuar an und wohnen in verstreuten Gemeinden im Wald.  In Selvavida lebten wir zwei weltwärts-Freiwilligen Jacob und ich gemeinsam mit einer Shuarfamilie, die sich sehr viel um uns kümmerte und uns ins familiäre Leben integrierte. Im Einklang mit der Natur wohnten wir in einfachen Bambus- / Holzhütten ohne Elektrizität und alles Wasser bezogen wir aus den zwei klaren Flüssen, die das Projektgelände eingrenzen.
 


 Meine Hauptaufgabe war das Unterrichten von Englisch an der kleinen Schule in der Nachbargemeinde Tunants, was zusammen mit der Anreise im Bus und der Rückkehr meist zu Fuß die Vormittage ausfüllte. Jeden Tag unterrichtete ich mindestens eine Klasse, die sich aus drei Klassenstufen zusammensetzte. Meine Schüler waren im Alter von sechs bis sechzehn und es war eine große Herausforderung, bei den verschiedenen Alters- und Entwicklungsniveaus in einem einzigen Klassenraum einen vernünftigen Mittelweg zu schaffen, mir selbst zu überlegen, wie ich den Unterricht am besten aufbaue und zugleich den richtigen Umgang mit den jungen Leuten zu finden – Lehrer-Schüler-Verhältnis,  streng und strafend? Oder eher ein lockerer, freundschaftlicher Umgang? Aufgrund meines jungen Alters, der Art, wie ich als Freiwillige offenherzig mit allen Familien, Lehrern und Schülern umsprang, die Kinder sofort neugierig auf mich zugingen und ich natürlich keine echte Lehrerfahrung hatte, ergab sich ein eher freundschaftlicher Umgang. Das sorgte für eine entspannte, angenehme Atmosphäre in der Klasse, in der sowohl die Schüler als auch ich sich wohlfühlten und in der wir sehr spielerisch versuchten, uns der englischen Sprache anzunähern und dabei viel mit Gesang und Malen arbeiteten, meiner Meinung nach auch die einzige Möglichkeit, um in den jungen Jahren das Interesse für die fremde Sprache aufrechtzuerhalten. Manchmal allerdings verlor ich im Unterricht an Autorität, was das Unterrichten eine Zeit lang sehr erschwerte. Doch mithilfe der Unterstützung eines Lehrers, der in Problemsituationen eingriff, fand ich wieder zu einem positiven und lernfreundlichen Klima in den Klassen zurück. 

Nachmittags stand der ökologische Teil des Projekts an. In diesem waren meine Aufgaben weit weniger konkret und regelmäßig festgelegt wie in der Schule. Sie konnten von Feuerholz holen, über Reparaturarbeiten und Hausbauten bis hin zur Wegeausbesserung, zur Feldarbeit und zum Fischen reichen. Es ist schwer, zu definieren, wie viele Stunden ich nachmittags tatsächlich „arbeitete“, da die Grenzen zwischen „ökologischen Tätigkeiten“ und dem Leben selbst verschwommen waren. Denn zählt das Geschirrspülen im Fluss zur Projektarbeit? Zählt der Gang in die Nachbargemeinde, um ein Huhn fürs Abendessen zu besorgen? Die Stunden, die ich beim Waschen meiner Kleidung im Fluss zubrachte? Das Beschäftigen mit dem kleinen Gastbruder Tuntiak, den wir vom zweiten ins dritte Lebensjahr begleiteten? Das abendliche Fischen und das Helfen beim Kochen, was alles keine Pflicht war, aber eben dazugehörte?  Alles für mich ungewohnte Tätigkeiten, die ich selbst zum Teil natürlich als Arbeit wahrnahm, die im Leben der Shuar jedoch ganz normal und selbstverständlich sind. Unser Koordinator im ökologischen Teil war zugleich unser Gastvater Cesar, der es sehr gut verstand, mich Dschungelneuling in das Leben vor Ort und die Arbeit sanft einzuführen, der genau wusste, welche Aufgaben er welchen Freiwilligen am Nachmittag zuordnen kann und der uns selbst
entscheiden ließ, wie sehr wir uns auch in der Gemeinde integrieren wollten, uns überall mit hinnahm und an seinem unglaublichen Wissensschatz teilhaben ließ. 
 

Für mich waren es vor allem Cesar und meine Schüler, die mir eine Art Brücke von meiner in die Shuarkultur bauten. Denn Kinder sind unvoreingenommen, voller Neugier und bereit, für sie Selbstverständliches zu erklären, sie reichten mir von Anfang an ihre Hand und zogen mich mit sich. So auch Cesar, der zwar uneingeschränkt „en el mundo Shuar“, in der Shuargesellschaft und dem Dschungelleben verwurzelt ist, aber auf der anderen Seite durch das lange Auseinandersetzen mit Freiwilligen aus aller Welt und vor allem Europa auch unsere Denkweise weitgehend kennt und darauf eingehen kann. 
 

Diese beiden Brückenbauer taten mir im gesamten Jahr sehr gut und verhalfen mir dazu, die Kultur von innen heraus viel besser kennen zu lernen und zu verstehen. Denn gerade in der Gemeinde fiel es mir am Anfang schwer, mich willkommen zu fühlen und Anschluss zu finden, was wohl daran liegt, dass bei Treffen oder im Alltag häufig Shuar statt Spanisch gesprochen wird und die Einheimischen zum Großteil nicht direkt auf uns zu gingen. Das liegt keinesfalls an fehlender Herzlichkeit – ich habe zum Beispiel noch nie in meinem Leben eine solche Großzügigkeit erfahren wie im Dschungel, wo wirklich alles geteilt wird, selbst wenn es fast nichts gibt – sondern die Menschen sind schlichtweg  keine Ausländer gewohnt und deshalb genauso unsicher im Umgang mit mir wie ich mit ihnen. 
 

Deshalb war es wichtig, dass ich einen Mitfreiwilligen im Projekt dabeihatte, Jacob. Denn manchmal stieg der Drang, sich mit jemandem aus dem gleichen Kontext auszutauschen. Außerdem erlebten wir die Kultur aufgrund des Geschlechtsunterschieds oft ganz unterschiedlich, Frauen und Männer haben im Urwald doch sehr strikt aber oft sehr sinnvoll getrennte Rollen.  Nach wohl circa einem halben Jahr begann ich das Leben, die Gemeinde und wahrscheinlich auch die Kultur an sich immer mehr zu begreifen, zu akzeptieren und zu genießen. Es beeindruckte mich zutiefst, wie jung und alt miteinander zeitlos die Zeit teilen,und wie die Zeit selbst anders definiert wird. Ich würde es hier mit den Worten ausdrücken: „jeder hat Zeit“, aber die Aussage passt noch nicht mal, denn im Dschungel hat keiner Zeit, denn Zeit ist hier nichts, was man haben kann, Zeit ist da und man selbst genauso. Man lebt gelassen im Einklang mit der Natur.  Denn genau diese ist es, die dort auch die größte Freude bereitet.  Gemeinsames baden im klaren, reinen Fluss bei tropischer Sonne. Fischen mit der ganzen Familie und anschließend ein riesiges Festmahl. Am Feuer sitzen und den immerwährenden Dschungelgeräuschen lauschen. Beim Kleiderwaschen und beim Chichamachen mit den Frauen quatschen. Mit den Kindern herumtollen. Es ist schwer zu beschreiben, aber man Ist einfach, statt dass man sein muss oder macht. Natürlich ist das Leben nicht nur so romantisch, wie ich es eben darstellen musste, um etwas von dem Ambiente rüberzubringen. Die Menschen kämpfen mit echten Problemen, die die Gesundheit und das Bestehen in der Zukunft ihrer Kinder sowie das Überleben des allumfassenden Urwalds gefährden. Und trotzdem lässt sich das keiner anmerken, die Shuar sind echte Kämpfer und gehen lieber jagen oder auf ausgelassenen Fiestas tanzen, als sich unterkriegen zu lassen. Ich bin froh, dass ich diese faszinierende Kultur auf diese Weise kennenlernen konnte und auf diese Weise aufgenommen wurde, mir letzendlich auch sehr viel Vertrauen und Zuneigung geschenkt wurde, die ich am Anfang einfach nicht als solche erkannte und dass ich mich dadurch  nach einer Zeit wirklich integrieren konnte.
 

Wenn ich aus dem Dschungel herausfuhr, fühlte es sich jedes Mal so an, als würde ich aus einer eigenen Welt in eine andere schreiten – ins restliche Ecuador. An vielen Wochenenden nutzte ich die Chance, mich in einem derart vielfältigen Land zu befinden und reiste in Sierra, Costa und Oriente herum, mal alleine und mal mit Jacob oder anderen Freiwilligen, die wir uns auch gegenseitig in den Projekten besuchten – sehr spannend, zu erleben, wie sehr sich die einzelnen weltwärtsFreiwilligendienste in Ecuador noch unterscheiden, die Erfahrungen wichen oft so sehr voneinander ab, als ob wir in verschiedenen Ländern leben und arbeiten würden. Die Abwechlung, die mir die Reisen boten, ließ auch die Motivation für die Arbeit im Unterricht steigen und ich kann im Nachhinein erstaunt sagen, dass ich mich meist genauso auch aufs Zurückkehren in den Dschungel wie auf die Reise selbst freute.  Manchmal war die Abgeschiedenheit im Projekt schon auch hart, aber grundsätzlich fühlte ich mich in Selvavida und der Gastfamilie zu Hause, wirklich fehlen tat mir an nichts, das immer draußen sein war mein Ding und ich mochte meine Aufgaben im Projekt und in der Schule.

 

 

In den letzten Monaten intensivierten wir die Englischstunden, um die Schüler bestmöglich auf die anstehenden und von mir konzipierten schriftlichen und mündlichen Prüfungen (und aufs restliche Leben natürlich) vorzubereiten und sie schnitten doch erfreulich gut ab. 
 

So konnte ich frohen und schweren Herzens zur Abschlussfeier in Tunants erscheinen, bei der es Tänze, Festessen, Reden und Chicha gab und ich genau wie die Mädchen das traditionelles Kleid trug – welch Ehre. Es war der erste Schritt des Abschieds und er fiel schwer – denn ich ließ ein Leben zurück, an dem ich Gefallen gefunden hatte und noch schlimmer: herzensgute Menschen, die ein Jahr lang alles für mein Wohlergehen getan hatten.  Genau wie diesen schulde ich Kulturlife, meinen ganzen großzügigen Unterstützern – finanziell, emotional und aktiv – und weltwärts ein unsagbar großes Gracias / Danke / Yumin sangme.  Ohne all diese Beteiligten und noch viele mehr wäre das Projekt nicht möglich gewesen, hätte ich nicht ein derart reiches Jahr verbringen können. 
 

 

Nun bin ich wieder in Deutschland, ein Zustand, den ich mir aus Ecuador und aus dem Dschungel weder vorstellen wollte noch konnte. Doch mir geht es auch hier jetzt viel besser als erwartet und ich bin bereit dazu, die Entscheidungen, die ich im Dschungel traf, nun in Wirklichkeit umzusetzen:  In wenigen Tagen ziehe ich nach Heidelberg und nehme dort das Studium der Fächer Mathematik und Spanisch auf.  Der Dschungel, die Shuar, und alles, was ich im letzten Jahr erlebt habe, hat mich unfassbar geprägt und wird mich ein Leben lang begleiten.
 
 

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Kommentare: 2
  • #1

    Erika und Walter (Samstag, 22 September 2018 10:05)

    Danke, danke, danke, es war eine große Freude das Jahr in Ecuador mit zu erleben, für deinen weiteren Lebensweg alles Gute und Erfolg, Erika und Walter.

  • #2

    Mama (Dienstag, 16 Oktober 2018 14:34)

    Meine liebe Maja,
    es ist so schön dich wieder gesund und munter zurück zu haben,
    es ist herzerwärmend deine Berichte und Geschichten zu hören, und mit welcher Liebe, Spaß und Freude du von allem erzählst
    Es ist toll, dass du alles für dein Studium von dort aus und dann auch gleich hier wieder managen konntest
    und es ist einfach das Größte für mich, zwei so tolle besondere und liebenswerte Töchter zu haben ♥
    Hab dich lieb! Mama ♥

Rückflug am 25.08.18

Hier lebe ich die meiste Zeit
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